Omertà in Den Haag

Angeklagter wird zum Ankläger: Jugoslawiens Expräsident Slobodan Milosevic präsentiert vor dem UN-Tribunal prominente Entlastungszeugen – doch die Westmedien schweigen

Nach einem kurzen Aufbrechen der Nachrichtensperre Anfang September herrscht wieder das Gesetz des Schweigens, dem sich an der publizistischen Front kaum jemand zu widersetzen wagt. Seit einigen Wochen verteidigt sich Slobodan Milosevic wieder selbst, doch daß er nun wieder die Gelegenheit nutzt, als Ankläger gegen die NATO, die Zerstörer Jugoslawiens und ihr UN-Charta-widriges »Tribunal« aufzutreten, genau dies vermasselt das Abdrehen von NATO-Propaganda-Filmchen, was wiederum die Drehbuchautoren maßlos empört und was sie mit Funkstille vergelten. Ehrensache unter den Mafiabrüdern und -schwestern.

Am 30. und 31. August hatte Slobodan Milosevic in einem kämpferischen Vortrag seine Erwiderung auf die »Anklage« vorgetragen. Und zwar ausnahmsweise weitgehend ungestört durch die Obrigkeit, offenbar, weil der nächste »Streich« schon feststand: »Zu schwach, um sich selbst zu verteidigen«, befand man plötzlich und ungewohnt fürsorglich, obwohl dies in heftigem Kontrast zum soeben erlebten Auftritt und der sichtlich ungebrochenen Kampfmoral stand. Der Befund stammte von einem Arzt aus Belgien, frisch eingeflogen, als etliche »Tribunal«-Größen nach Besuch von ihrer Mutter Madeleine (Albright, allgemein »die Mutter des Tribunals« genannt) eine »grundlegende Reform« des Prozesses gefordert hatten. Milosevic kommentierte: »Na ja, ein Arzt aus Belgien, dem NATO-Hauptquartier«. Seinem Verlangen nach einem Arzt aus Rußland, Serbien oder Griechenland wurde freilich, wie zur Bestätigung des Spotts, nicht stattgegeben.

Inzwischen mußte das »Tribunal« die Brutalovariante des Entzugs des Selbstverteidigungsrechts wieder zurücknehmen: Rund 200 Zeugen weigerten sich, von jemand anderem als Milosevic selbst vernommen zu werden, die Zwangsverteidiger beantragten ihre Entlassung, da ihnen standesrechtliche Sanktionen drohen. Auch die juristische Fachöffentlichkeit war wenig angetan: »Der Prozeß droht ein Scheinprozeß zu werden«, meinte der keinesfalls als Linker oder Milosevic-Freund bekannte niederländische Völkerrechtler Frans Kalshoven. Doch der Rückzieher des »Tribunals« ist halbherzig, da im Falle der Erkrankung doch eine Zwangsverteidigung stattfinden soll – Gesundheit wird also durch Drohung »sichergestellt«. Üblich wäre, daß bei Verhandlungsunfähigkeit nicht verhandelt wird. Aber das gilt nur international, und nur vor einem ordentlichen Gericht, und dies ist dieses »Tribunal« ja mitnichten.

Auch die eigene Prozeßordnung scheint ein Muster ohne Wert zu sein, denn die verlangt bei unbewiesener Anklage das Ende des Verfahrens. Darüber sind zumindest niederländische TV-Zuschauer besser im Bilde, sie konnten schon zur besten Sendezeit drei Dokumentationen von Germinal Civikov zum »Fall Milosevic« sehen. Man sah gekaufte Zeugen wie den angeblichen Geheimdienstler Lazarevic, der seinen schwarzhaarigen und dunkelhäutigen Vorgesetzten als blond und blauäugig beschrieb. Man war dabei, als der frühere Geheimdienstchef Markovic auspackte, daß ihm eine neue gesicherte Existenz und neue Identität im Ausland unter der Bedingung versprochen wurde, daß er Milosevic falsch beschuldige, alternativ drohe ihm eine Haftstrafe. Auch was ein »geschützter Zeuge« ist, weiß man jetzt, z.B. der Mörder der Unterweltgröße »Arkan« (der Mord wurde seinerzeit auch Milosevic in die Schuhe geschoben), der für seine Aussage gegen Milosevic vom »Tribunal« zur Belohnung vor der Belgrader Justiz »geschützt« wird. Schließlich konnte man den Freischärlerführer »Kapetan Dragan« mit dem Vorwurf erleben, das »Tribunal« schütze Dutzende echte Kriegsverbrecher, nur um willfährige Belastungszeugen gegen Milosevic zu produzieren. Der Zeuge mußte seine Heimfahrt aus eigener Tasche bezahlen, da ihn der Ankläger mit dem irreführenden Namen Nice nach dieser Aussage beschied: »Ich kenne Sie nicht mehr.«

»Unbemerkt« wird derweil in Den Haag weiterverhandelt, selbst prominenten Zeugen wie Nikolai Ryschkow oder Jewgeni Primakow gelingt es nicht, die Mauer des Schweigens der Westmedien zu durchbrechen. Primakow erklärte zum jugoslawischen »Regime Change«, daß Milosevic für die US-Regierung Anfang der 1990er ein ideologischer Gegner gewesen sei, der letzte sozialistische Regierungschef Europas, den es zu beseitigen galt und der sich den Plänen des Westens zur Zerschlagung Jugoslawiens widersetzt habe.

Beim Verhör präsentierte Primakow offizielle Stenogramme seiner Telefonate mit US-Vizepräsident Al Gore und Frankreichs Präsident Jacques Chirac, mit den Premierministern Italiens und Großbritanniens sowie zahlreiche Aufnahmen seiner Gespräche mit Milosevic. »Die Dokumente, die dem Gericht in englischer Sprache vorgelegt wurden, waren also keinerlei Propaganda«, resümierte Primakow gegenüber dem russischen Fernsehen. In den Westmedien hat er damit natürlich keine Chance, und in Den Haag sicher auch nicht. Denn wie wußte die begnadete Carla del Ponte schon in der Welt vom 1.10.2004: »Milosevic wird schuldig gesprochen und verurteilt.«

Klaus Hartmann

Der Autor ist Vorsitzender des Freidenkerverbandes und der Deutschen Sektion des Internationalen Solidaritätskomitees zur Verteidigung Slobodan Milosevics


Hintergrund: Anklage und Verteidigung

Der Prozeß gegen Milosevic begann im Februar 2002. Seitdem hörte das Tribunal fast 300 Zeugen der Anklage, die von Milosevic ins Kreuzverhör genommen wurden.

Im Herbst begann mit der Verteidigung Milosevics die zweite Phase des Prozesses. In Verletzung der geltenden »Waffengleichheit« bekam der Angeklagte lediglich drei Monate zur Vorbereitung seiner Verteidigung.

Gegen die geballte Macht des NATO-Apparates steht (neben der Stimme von Slobodan Milosevic) ein minimales Rechtsberaterteam. Um der Stimme gegen die Aggressoren Gehör zu verschaffen, wird jede noch so kleine Spende dringend benötigt.

Spenden für die Verteidigungsarbeit bitte an Peter Betscher, »Rechtshilfefonds«, Stadt- und Kreissparkasse Darmstadt, Konto 102 144 163, BLZ 508 501 50.

Anna Gutenberg

junge Welt vom 15. Dezember 2004


(Siehe auch Interview mit Cathrin Schütz)


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