»Das war Mord«

Slobodan Milosevic tot in seiner Gefängniszelle aufgefunden. Aus Moskau und Belgrad schwere Anschuldigungen gegenüber dem Haager Tribunal

Am Sonnabend vormittag wurde der frühere jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic in seiner Gefängniszelle im niederländischen Scheveningen tot aufgefunden. Das war »ein bestellter politischer Mord«, erklärte der russische General Leonid Iwaschow in einer ersten Stellungnahme. »Man könnte sagen, das Tribunal hat meinen Bruder getötet«, sagte Borislav Milosevic. Derselben Meinung war auch die Witwe Mira Markovic: »Das Haager Tribunal hat meinen Mann ermordet.« Ivica Dacic, Vorsitzender von Milosevics Sozialistischer Partei Serbiens (SPS), äußerte in Belgrad: »Milosevic starb nicht in Den Haag, er wurde in Den Haag getötet.« Zwei Belgrader Tageszeitungen, Glas Javnosti und Press, erschienen am Sonntag mit identischer Schlagzeile: »Den Haag tötete Milosevic.«

Daß dieser Verdacht nicht aus der Luft gegriffen ist, beweisen Äußerungen Milosevics vom Vortag seines Todes, über die sein Rechtsbeistand Zdenko Tomanovic postum berichtete. Er präsentierte am Sonntag in Den Haag einen sechsseitigen Brief Milosevics an die russische Botschaft vom 10. März 2006. Darin heiße es, bei einer Untersuchung im Januar seien in seinem Blut Spuren eines starken Medikaments gegen Tuberkulose oder Lepra entdeckt worden. Der Expräsident sei deswegen ernsthaft besorgt gewesen, sagte Tomanovic weiter. »Sie würden mich gerne vergiften«, habe Milosevic geklagt. Er habe den Häftling am Freitag nachmittag um 16.30 Uhr das letzte Mal gesehen.

Am selben Tag hatte auch Milorad Vucelic, ein SPS-Vorständsmitglied, aus Belgrad mit dem Angeklagten telefoniert. »Er war aufgekratzt und zufrieden mit dem Vorankommen seiner Verteidigung«, sagte Vucelic. Beide hätten vereinbart, ihr Telefonat am Sonnabend fortzusetzen. Vucelics Schlußfolgerung: »Es besteht kein Zweifel, daß dies eine Frage der Liquidierung Milosevics durch das Haager Gericht ist.«

Demgegenüber sprachen Repräsentanten des Haager Gerichts in ersten Stellungnahmen von einem natürlichen Tod. Chefanklägerin Carla del Ponte wollte auch einen Selbstmord nicht ausschließen. Genauen Aufschluß sollte die Autopsie bringen, die Sonntag mittag begonnen hatte und zum Redaktionsschluß nicht abgeschlossen war. Bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung des Niederländischen Forensischen Instituts (NFI) sollte auch ein serbischer Arzt zugegen sein. Mit dessen Auswahl war Rasim Ljajic betraut, der für die Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal zuständige Minister der serbischen Regierung. Ljajic, ein Moslem, gilt als extrem Milosevic-feindlich. Die Angehörigen des Toten hatten gefordert, die Leiche außerhalb der Niederlande und in ihrem Beisein zu obduzieren.

Unabhängig von einer möglichen Ermordung trägt das Tribunal zumindest durch Vernachlässigung der Obhutspflicht für den Inhaftierten die Schuld an dessen Tod. So hatte sich Milosevics Herzkrankheit seit Verhandlungsbeginn im Februar 2002 kontinuierlich verschlimmert. Der Prozeß mußte immer wieder unterbrochen werden. Im November letzten Jahres sah eine internationale Ärztegruppe das Leben Milosevics bei Fortsetzung der Verhandlungen in Gefahr. Der Angeklagte stellte daraufhin einen Antrag, sein Leiden von Spezialisten in Moskau behandeln zu lassen. Trotz der Zusicherung der russischen Regierung, Milosevic danach wieder zu überstellen, lehnte das Gericht den Antrag Ende Februar ab. - Eine Vernachlässigung der Aufsichtspflicht liegt auch vor, sollte der Tod des Expräsidenten tatsächlich »erst nach mehreren Stunden« entdeckt worden sein, wie neben serbischen Medien auch die Online-Ausgabe der Welt meldete.

Jürgen Elsässer

junge Welt vom 13.03.2006


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